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4.4.5 Hilfestellungen für umgeschulte Linkshänder durch Aufarbeiten der Umschulungsfolgen – (11/2011)

Oft ist es für umgeschulte Linkshänder ein Schock, wenn sie Erkennen, dass eine große Menge ihrer Probleme in einem kausalen Zusammenhang mit der oft schon lange verdrängten und vergessenen Umschulung stehen. Zuvor sahen sie ihre Schwierigkeiten als ein individuelles, nur sie betreffendes Problem an. Sie fühlten sich beeinträchtigt, manchmal sogar behindert.

Trotzdem konnten sie sich nicht erklären, woher diese Schwierigkeiten im Alltag und im Privatleben stammten. Viele hatten sich allmählich daran gewöhnt, ihre Schwierigkeiten in Hinblick auf ihr eigenes Selbstwertgefühl negativ auszulegen.¹

Das nicht nur der umgeschulte Linkshänder von diesen Schwierigkeiten betroffen ist, sondern noch viele andere („normale“) Menschen ähnliche Probleme haben, aber genauso wenig darüber reden, war für viele eine große, wichtige Erkenntnis. Oft bewirkte es Erleichterung und gleichzeitig eine starke depressive Reaktion („Warum musste gerade mir das passieren?“).

Der erste Reflex war häufig die Wut auf die scheinbaren Verursacher (siehe Abbildung 20, Seite 59) wie zum Beispiel die Eltern, die Großeltern, die Lehrer oder andere nahe stehenden Personen. Sie konfrontierten diese mit starken Vorwürfen, wobei die Angegriffenen sich häufig nicht mehr an den inkriminierten Umschulungsvorgang erinnern konnten. Viele hatten diesen aus ihrer Sicht „belanglosen Vorgang“ auch schon lange vergessen.

Dadurch erlebten viele umgeschulte Linkshänder erneute Irritationen und Probleme. Denn die beschuldigten „Verursacher“ reagierten meist auf diese Vorwürfe aggressiv und hielten sie für ein nachträglich konstruiertes Alibi, mit dem der umgeschulte Linkshänder sich einen Vorteil in der Konkurrenz im tagtäglichen Leben, in der Partnerbeziehung und am Arbeitsplatz erschleichen möchte.²

Durch diese Abwehr warfen sie den Betroffenen in weitere Selbstzweifel, Unsicherheiten und in erneute Minderwertigkeitskomplexe.

¹ vgl. Sattler, „Der umgeschulte Linkshänder…“, S.139
² vgl. Sattler, „Der umgeschulte Linkshänder…“, S.140

So kommt es bei den Betroffenen nicht zu einer pragmatischen Bewältigung der wahrgenommen Probleme, zu einem Prozess der Aufarbeitung und der Umbewertung der eigenen Leistungsfähigkeit, der erreichten Erfolge und zu einer Änderung der festgefahrenen Verhaltensmuster, die aber dringend notwendig wäre.³

Wenn eine erfolgreiche Aufarbeitung der Umschulung der angeborenen Händigkeit erfolgen soll, ist eine Selbstbeobachtung der Primär- und Sekundärfolgen unabdingbar.
Durch eine richtige Bestimmung der Probleme und der verschiedenen Zusammenhänge kommt es bei vielen Menschen zu überraschenden und kontinuierlichen Verbesserungen der primären, als auch der sekundären Umschulungsfolgen.

Oft äußern die Betroffenen, dass ihnen „eine Last von den Schultern genommen wurde“. Sie sehen ihre Probleme von nun an in einem neuen Blickwinkel und reagieren anders darauf. Die bisherigen Versagensängste projizieren sie mit weit geringerer Intensität auf ihre Leistungsfähigkeit, so dass es zu einer kommt, die als äußerst erleichternd empfunden wird.

Die entscheidenden Prozesse werden bei vielen Betroffenen bereits durch die richtige Zuordnung der Zusammenhänge mit einem spezialisierten Psychologen eingeleitet. Mit dieser neu gewonnenen Erkenntnis fühlen sie sich allgemein besser, da sie leichter interagieren und manch negativ geprägten Verhaltens- muster sprengen können.

Dadurch ist natürlich nicht die Ursache – die Umschulung der angeborenen Händigkeit – behoben. Es kommt aber zu einem Prozess der reiferen Akzeptanz bestimmter Schwierigkeiten. Die Hoffnung zu wecken, dass durch eine Aufarbeitung alle primären Umschulungsfolgen grundlegend zurückgehen oder ganz verschwinden, wäre falsch. Man muss weiter mit ihnen rechnen, denn sie treten weiterhin auf.

Es sollte versucht werden, sie als eine Art Behinderung, die man andauernd mit sich trägt, zu akzeptieren. Was aber weitaus positiver und wichtiger ist, dass empirisch festgestellt wurde, dass sich die negativen Auswirkungen im Bereich der Sekundärfolgen massiv verringern, und zwar vor allem durch die Durch- brechung der automatisch eingesetzten emotionalen Rückkopplung.

³ vgl. Sattler, „Der umgeschulte Linkshänder…“, S.140
vgl. Sattler, „Der umgeschulte Linkshänder…“, S.141
Sattler, „Der umgeschulte Linkshänder…“, S.142