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3.3 Entwicklung und Vererbung der Händigkeit – (11/2011)

Die Neurophysiologie geht davon aus, dass die ganze Lateralitätsstruktur genetisch festgelegt ist. Hierbei ist es ziemlich oft so, dass bei Linkshändern und auch Rechtshändern das Sprachzentrum in der linken Hemisphäre sitzt. Es wird also vererbt. Diese Weitergabe der Erbinformationen erfolgt codominant, dies hat zur Folge das jeder, beide Gene, also der Rechts- und Linkshändigkeit, in sich trägt.
Hieraus ergibt sich die Frage der genauen Ausprägung (des Phänotyps). Dies ist jedoch noch sehr umstritten, da die Vererbung der Händigkeit nicht nach einem strikten Kreuzungsschema ermittelt werden kann. Dafür ist in der Wissenschaft noch zu wenig bekannt und der Vererbungsmechanismus zu kompliziert. Es wurde bereits herausgefunden, dass wenn in einer Familie die Linkshändigkeit einmal vorgekommen ist, diese dann in den folgenden Generationen immer wieder zum Vorschein kommt.

Der amerikanische Wissenschaftler A. Gesell hat in seinen Untersuchungen an Schwangeren herausgefunden, dass die Händigkeit schon beim ungeborenen Kind vorhergesehen werden kann. Dies geschieht durch den tonischen Nackenreflex. Es handelt sich hierbei um einen Streckreflex, die Richtung der Streckung und die Händigkeit stimmen hierbei überein.¹

In unserer Umfrage gaben von 36 befragten Linkshändern nur 10 an in ihrer Verwandtschaft linkshändige Personen zu haben. Hierzu zählten vor allem Cousin/en, Onkel, Tante, Eltern, Kinder, Großeltern und Urgroßeltern. Auch die im Interview (siehe Anhang 5, Frage 2) befragte Linkshänderin Julia Hartung hat einen linkshändigen Onkel und eine Cousine. Gleicherweise gab unsere Außenbetreuerin Silke Presch (siehe Anhang 3, Frage 3) an, dass ihr Vater linkshändig ist.

Bei 26 Personen war allerdings niemand in der Familie bekannt. Der Grund dafür könnte das durchschnittliche Alter der Befragten von 27 Jahren sein. Die Eltern, Großeltern und Urgroßeltern der Umfrageteilnehmer sind in einer Zeit aufgewachsen, als die Linkshändigkeit noch nicht so toleriert wurde, wie in unserer Zeit. Durch die, wie bereits erwähnt, konsequente und gewaltsame Umschulung, kann es also sein, dass viele nichts von ihrer Seitigkeit wissen.

Es besteht zudem die Möglichkeit, dass die Hirnigkeit während der Geburt entsteht. Leidet der Säugling im Zeitraum der Geburt unter Sauerstoffmangel oder ist diese sehr anstrengend, kann es zur Beeinflussung der Händigkeit kommen. Die Gehirnhälfte, die zu wenig Sauerstoff hat, wird von der Anderen ausgeglichen. Diese wird also mehr beansprucht.

1 vgl. Meyer, S.20-24

Welche Hirnhemisphäre die dominante ist, zeigt sich schon im Säuglingsalter, da die motorische Entwicklung mit der Ausbildung der Händigkeit zusammenhängt. Die Handbevorzugung wird in den ersten Monaten noch nicht sichtbar, da das Kind noch keine koordinierten Bewegungen durchführt, sondern nur Reflexen folgt (z.B.: Kopf anheben). Die Händigkeit wird im zweiten Lebensjahr erst deutlich sichtbar und immer stabiler, da das Kind nun beginnt zu „malen“ und mit Hilfe einer Arbeits- und einer Haltehand zu spielen.

Vorher, im Alter von 4-7 Monaten wird ein bilateraler Handgebrauch ausgeführt. Dies ist jedoch ein vollkommen normaler Entwicklungsprozess. Im 8. Lebensmonat kann man bereits eine bevorzugte Hand beobachten. Die Kinder beginnen Dinge festzuhalten, die Handbevorzugung ist aber noch nicht manifestiert. Wenn das Kind im dritten Lebensjahr damit beginnt Objekte auszuschneiden, ist es bereits ratsam eine Schere anzulegen, die zur Händigkeit passt.

Ist im Alter von vier Jahren noch kein eindeutiger Handgebrauch zu erkennen, sollte das beim Arzt angesprochen werden. Häufig kommt es jedoch vor, dass die Eltern zu lange warten. Die Kinder bekommen nach der Einschulung oft Probleme. Es sollte dann dringend eine Diagnostik durchgeführt werden, um die Motorik der dominanten Hand richtig zu fördern. Wechselt das Kind oft die Hände und ist es sich unsicher, kann dies zu Problemen führen, da es zu einer übermäßigen Belastung des Gehirns kommt.

Probleme könnten sein: Rückenschmerzen, Konzentrationsschwäche, Rechtsschreibschwäche. Da durch unbewusste oder bewusste Umschulung der Händigkeit viele Schwierigkeiten auftreten können, wird im nachfolgenden Kapitel näher darauf eingegangen. Im Kindergartenalter wird die Präferenz der linken Hand oft dadurch sichtbar, dass die Kinder in Spiegelschrift schreiben oder Buchstaben verdrehen (siehe Abbildung 9, Seite 53).²

Die Eltern sind sich oft unsicher, häufig wissen sie nicht, wie sie mit ihrem Kind umgehen sollen und greifen so in die Entwicklung ein. Sie geben dem Kind Gegenstände in die “schöne“ Hand und beeinflussen somit seine Entwicklung. Das kann jedoch, wie schon kurz erwähnt, zu Problemen führen. Es gibt keine „gute“ oder „böse“, „schöne“ oder „unschöne“ Hand. Die Händigkeit ist etwas vollkommen Normales. Wie es die beiden Geschlechter gibt, so gibt es eben auch verschieden händige Personen.

Die meisten Kinder zeigen bereits im Alter von ein bis zwei Jahren ihre eindeutige Ausprägung. Sie greifen nach ihrem Spielzeug bevorzugt mit der dominierenden Hand. Auch benutzen sie diese zum Essen. Die andere Hand dient ihnen zum Unterstützen und Halten. Die von uns befragten Linkshänder stellten durchschnittlich im Alter von 5 Jahren ihre Linkshändigkeit fest, also kurz vor Eintritt in die Schule. Bei Julia Hartung (siehe Anhang 5, Frage 1) stellten die Eltern mit 2 Jahren fest, dass ihr Kind linkshändig ist.

Es gibt aber auch Kinder, welche über eine normale körperliche und geistige Entwicklung verfügen, aber trotzdem zu einem Wechseln der eindeutigen Händigkeit neigen. Das geschieht oft durch Einflussnahme von außen und das frühkindliche Nachahmungsverhalten. Diese Kinder sollten besonders beobachtet werden. Falls sich bis zum fünften, sechsten Lebensjahr keine Besserung ergibt, sollte ein Fachmann aufgesucht werden, um die Entwicklung der eindeutigen Händigkeit zu fördern. Das muss auch bei Kindern geschehen, die den bevorzugten Handgebrauch ändern, sonst können später Schwierigkeiten auftreten.³

² vgl. Weber, S.25-34
³ vgl. Sattler, „Das linkshändige Kind…“, S. 8-12

Bis zum Beginn der Schullaufbahn sollte eine Schreibhand festgelegt sein, da sonst das Gehirn in seinen Vorgängen gestört wird. Kann ein Kind mit beiden Händen gut Tätigkeiten ausführen, handelt es sich um einen Beidhänder. Allerdings ist es in diesen Fällen nicht so, dass beide Gehirnhälften gleich gut arbeiten. Die „Beidhänder“ sind oft umgeschulte Linkshänder, die sich dessen aber oft nicht bewusst sind. In unsere Umfrage gab es 13 Personen die sich als „Beidhänder“ eingeschätzt haben.

Der Begriff „Beidhänder“ wird häufig in älteren Literaturen benutzt. Fälschlicherweise wird damit aber ausgedrückt, dass beide Hände gleichwertig sind und somit auch keine Dominanz vorliegt. Näheres zum Begriff der „Beidhändigkeit“ finden sie im nachfolgenden Kapitel.

Das Sichtbarwerden der Händigkeit ist größtenteils dem Gebrauch und der Übung zuzurechnen. Aus diesem Grunde benötigen vor allem Linkshänder in unserer Gesellschaft besonderen Zuspruch und Unterstützung, um ihre Seitigkeit frei entfalten zu können.

Auch wenn bei einem linkshändigen Kind die Schulung der rechten Hand erfolgt, wird seine Hirnigkeit dadurch nicht verändert. Die Entwicklung der eindeutigen Händigkeit hat sich in der Evolutionsgeschichte durchgesetzt, da sie den Menschen einen Vorteil brachte. Anderenfalls hätte sich nach der Selektion die Beidhändigkeit durchgesetzt.

Die Menschen waren durch die Ausbildung der Seitigkeit in der Lage, Fähigkeiten schneller zu erlernen. Sie konnten sich schneller spezialisieren. Die Hände konnten sich die Arbeit teilen, wobei eine die Hauptaufgabe übernimmt und die andere nur unterstützt.

Im Laufe der Zeit gab es verschiedene Erklärungsversuche für die Linkshändigkeit, teilweise auch sehr negative. So nannte der amerikanische Professor der Psychiatrie Abram Blau (1946) die Linkshändigkeit einen: „Ausdruck eines infantilen Negativismus“: „Infantile Negativismus“ deutet: die kindliche abwertende Haltung.

Auch wenn dieser seine These nie wissenschaftlich belegen konnte, hatte diese Einfluss auf den Umgang der Fachwelt mit der Linkshändigkeit.
In der heutigen Zeit ist die Forschung voran geschritten. Komplizierte und unterschiedliche Testmethoden machen jedoch klare Statistiken, welche als Fundament für genetische Modelle dienen könnten, sehr schwierig. Problem der Forschung ist vor allem, die ungenaue Zugehörigkeit der Linkshänder, da viele von ihnen umgeschulte Linkshänder sind und sich selbst somit als Rechtshänder sehen.

Auch der Kostenfaktor spielt hier eine große Rolle. Die meisten Forschungsmethoden sind sehr kostenintensiv. Trotz allem wurde nach neuesten Untersuchungen herausgefunden, dass die Ausbildung der Händigkeit auch bei Primaten vorhanden ist. Lange Zeit dachte man, dies sei ausschließlich den Menschen vorbehalten. Steinzeitliche Werkzeuge belegen, dass zu dieser Zeit die Anzahl der linkshändigen Primaten bei 50% lag. Die äquivalente Verteilung der Linkshändigkeit bei Affen beruht auf der Tatsache, dass diese nicht sprechen können.

vgl. Weber, S.36-41
Weber, S.20
http://www.sign-lang.uni-hamburg.de/projekte
vgl. Sattler, „Der Umgeschulte Linkshänder…“, S.127-129

Wie bereits erwähnt, sitz das Sprachzentrum in der linken Gehirnhälfte. Deshalb kommt es bei dem sprachbegabten Menschen zu einer stärkeren Ausprägung der Rechtshändigkeit.
„Irgendwann vor zigtausend von Jahren muss sich demnach das Sprachzentrum in der linken Hirnhälfte stärker herausgebildet haben- und damit wegen der kürzeren Reaktionszeit automatisch das anliegende Areal für Motorik.“

vgl. Freies Wort, S.7
Freies Wort, S.7