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6.2 Die erzwungene Umschulung – (10/2016)

Unter der erzwungenen Umschulung versteht man die direkte Lenkung des Handgebrauchs auf die rechte, beziehungsweise nicht dominante Hand. In Deutschland wurde in der Vorwendezeit die Umschulung von linkshändigen Kindern in der Schule aktiv praktiziert. Die Linkshändigkeit galt als anormal. Vor allem beim Schreiben und Essen wurde darauf geachtet, dass die Kinder den Stift oder den Löffel in die „richtige“, die rechte Hand nahmen.

Wenn die Kinder dann nicht stets von allein die rechte Hand für alle Tätigkeiten nutzten, musste nachgeholfen werden. Das geschah noch bis in die 1980er Jahre hinein. Zum einen durch körperliche Bestrafungen, wie Schläge oder das Festbinden der linken Hand auf dem Rücken. Dagegen ist der Entzug von Zuwendung, Gegenständen oder sogar der Freiheit eine physische Bestrafung.²

Zusätzlich wurde der Handgebrauch der linken Hand als schlecht und frevelhaft abgewertet. „In der Schule war das Linksschreiben verboten.“³ Vielen Linkshändern fiel das Schreiben mit rechts sehr schwer, sodass der Lernprozess nur langsam und mühevoll vonstattenging. Bald zeigte sich, dass sie, im Vergleich zu ihren Mitschülern, nicht so schnell im Unterricht mitkamen.

Und doch: „Es gab keinen Widerspruch.“ Für die Kinder war das zu dieser Zeit eine Qual. „Es wurde […] nicht geschult, sondern gezwungen, so habe ich es immer empfunden.“, ergab sich aus einem Interview mit einer, in ihrer Schulzeit umgeschulten, Linkshänderin. Insgesamt stellte sich bei der Befragung mehrerer Personen heraus, dass die Grundschulzeit für sie am schlimmsten war. Denn gleich zu Beginn des Schreiblernprozesses wurde bei den meisten mit der Umschulung begonnen.

² Vgl. Sattler, Johanna Barbara: „Der umgeschulte Linkshänder oder der Knoten im Gehirn“ / Auer Verlag GmbH Donauwörth / 2010/ S. 169-170
³ Siehe Anhang /Auszug 2. Interview mit Frau M.
Siehe Anhang /Auszug 4. Interview mit Frau U.
Siehe Anhang /Auszug 8. Interview mit Frau J.

Zu dieser Zeit war es auch noch üblich, das Schriftbild zu bewerten. Da umgeschulte Linkshänder aber eher eine krakelige, unsaubere Schrift haben, wurden sie immer schlechter bewertet, als andere Kinder. Frau A. S. beispielsweise hat hier besonders einschneidende Erfahrungen gemacht. Wegen ihrer schlechten Noten aufgrund ihres Schriftbildes wurde sie vor der Klasse bloßgestellt und von den Mitschülern ausgelacht.

Das führte zu einer erhöhten psychischen Belastung für sie. „Zum Glück bekam ich Rückhalt und Unterstützung von meiner Familie.“¹ Erst in einer weiterführenden Schule wurde von den Lehrern und Mitschülern bemerkt, dass sie eigentlich „doch nicht so blöd“ ist. Denn dann wurde mehr Wert auf den Inhalt und nicht auf die Schrift gelegt. Von da an fiel es ihr in der Schule viel leichter, zu lernen.

Manche versuchten geschickt eine Umschulung, zumindest teilweise, zu verhindern. Wenn auch nur ausgelöst, aufgrund von Schmerzen. „Meine rechte Hand war ständig verkrampft. Deswegen habe ich mir manchmal einen Sichtschutz gebaut. Dann konnte der Lehrer nicht sehen, dass ich zwischendurch mit links geschrieben habe”², sagte eine Frau.

Doch es gibt auch Fälle, in denen die Umschulung gar nicht funktioniert hat. Ein Mann, der noch vor Zeiten der DDR in die Schule kam, wurde sogar mit der Rute geschlagen, um zur Rechtshändigkeit geführt zu werden. Doch er kam damit überhaupt nicht zurecht und musste notgedrungen mit links schreiben, zur Missbilligung der Erzieher. Trotzdem ist er bis heute Linkshänder geblieben.

„22 % der Deutschen schreiben (heute) mit links. 1950 waren es erst 4 %.“³ Das zeigt, dass heutzutage sehr viel mehr Linkshänder auch ihre Linkshändigkeit ausleben. Damals hingegen wurden die meisten umgeschult, sodass fast niemand die linke Hand benutzte, beziehungsweise benutzen durfte. Wie viele Linkshänder es in ihrer Klasse tatsächlich gab, wissen viele Schüler nicht, denn oft wurde gar nicht über solche Themen gesprochen und stattdessen „still und heimlich“ umgeschult.

¹ Siehe Anhang /Auszug 13. Interview mit Frau S.
² Im Interview mit Franziska Badenschier, 25.02.2013 https://www.dasgehirn.info/handeln/motorik/erzwungene-rechtshaendigkeit-zeigt-sich-im-gehirn-6979 , 14.07.16
³ WELT am SONNTAG 07.04.02; Peters, Freia; aus: Studie vom Arbeitsamt Wilhelmshaven